Frankreich: Smartphone- und Social Media-Verbote

Ein Gutachten für die französische Regierung zum Thema „Kinder und Bildschirme“ fordert ein Smartphone-Verbot für Kinder bis zu 12 Jahren und Social Media-Nutzung erst ab 18 Jahren. Präsident Macron fordert die rasche Umsetzung dieser Empfehlungen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen.

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analog vor digital


Medien- und Informatikprojekte zum Begreifen

Praxisbuch Analog-Digidaktik 1: Grundschule

analog vor digital richtet sich an alle, die sich für eine mündigkeitsorientierte Medienbildung interessieren – sowohl in medienpädagogischen als auch in informatischen Themenfeldern.“

Brigitte Pemberger und Paula Bleckmann

Zum kostenlosen Download:
Gesamtes Buch, einzelne Kapitel und Zusatzmaterial

Gemeinderatsfraktion stellt Kita-Digitalisierung in Frage

Mit einer Anfrage (27.10.2023) stellt die Stuttgarter FrAktion (LINKE, SÖS, Piraten, Tierschutzpartei) im Gemeinderat infrage, ob das Konzept zur praktischen Medienarbeit in städtischen Kindertageseinrichtungen des Stuttgarter Jugendamts dafür geeignet ist, Kinder in ihrer geistigen und psychischen Reife und Entwicklung zu fördern.
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Wissenschaftliche Studie zu Kindern und Handystrahlung

Sieben renommierte Experten unter Leitung von Prof. Linda Birnbaum, der ehemaligen Direktorin des US-amerikanischen National Toxicology Program (NTP) und des National Institute for Environmental Health (NIEHS), legen mit dieser Studie zum ersten Mal einen umfassenden Überblick über die Forschungsergebnisse zu Auswirkungen von Mobilfunkstrahlung auf Fortpflanzung, Schwangerschaft und Kinder vor. Sie fordern Mediziner auf, die Strahlenbelastung in der Familie im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen von Kindern zu berücksichtigen.
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„Kümmert euch endlich um die Kinder, nicht um Tablets!“

Professor Zierer zur Ankündigung von CSU-Generalsekretär Huber, bis 2028 alle Schülerinnen und Schüler mit Tablets auszustatten

Pressestatement zu dpa-infocom, dpa:230808-99-768206/2

Als „Bildungspolitischen Aktionismus“ bezeichnet Klaus Zierer das Versprechen der bayerischen Regierungspartei, in den nächsten fünf Jahren über 1,6 Millionen Schülerinnen und Schüler an gut 6.400 Schulen in Bayern mit Tablets auszustatten. Hier werde ohne wissenschaftliche Evidenz über wichtigere pädagogische Herausforderungen hinweggegangen. Das folgende Statement des Augsburger Ordinarius hinterfragt den parteipolitischen Kurs und begründet die Kritik mit empirischen Forschungsergebnissen.
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Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung

Die schwedische Regierung machte ihre Entscheidung, Vorschulen verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten, rückgängig. Die neue Position fußt wesentlich auf der Stellungnahme des Karolinska Instituts, formuliert von Lisa Thorell, Professorin für Entwicklungspsychologie; Torkel Klingberg, Professor für kognitive Neurowissenschaften; Agneta Herlitz, Professorin für Psychologie; Andreas Olsson, Professor für Psychologie und Ulrika Ådén, Professorin und Beraterin für Neonatologie.

Lotta Edholm
Ministerin Lotta Edholm (Foto: Schwedische Regierung)

Die Bildungsministerin Lotta Edholm begründete die Kehrtwende: „Es ist offensichtlich, dass Bildschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen. Wir wissen, dass menschliche Interaktion für das Lernen in den ersten Lebensjahren entscheidend ist. Bildschirme haben in Vorschulen einfach nichts zu suchen.“ (zit. n. Homepage der Schweden Liberalen , der Partei, der Frau Edholm angehört; 7.7.23)

In der Zusammenfassung der Stellungnahme des Karolinska Institutes heißt es:

„Der von der Nationalen Agentur für Bildung vorgelegte Vorschlag für eine Digitalisierungsstrategie beinhaltet zwei übergreifende Ziele:

  1. Alle Kinder und Schüler sollen digitale Kompetenzen ent­wickeln, um aktiv am Unterricht, am sozialen Leben und am Arbeitsleben teilnehmen zu können, um zu einer nachhaltigen und demokratischen Gesellschaft beizutragen, und
  2. Die Qualität des Unter­richts, die Gleichwertigkeit und das Erreichen der Ziele sollen durch die Nutzung der Möglichkeiten, die die Digitalisierung in den verschiedenen Bereichen des Schulsystems bietet, verbessert werden.

In ihrem Bericht beschreibt die Nationale Agentur für Bildung, wie die zunehmende Digitalisierung zu verschiedenen positiven Effekten sowohl für die Schulen als auch für die Gesellschaft führen wird. Wir sehen in dem Bericht insgesamt drei Probleme:

  1. Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h. nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend. Wir fordern quantitative Studien, die die Auswirkungen der verschie­denen Maßnahmen auf den Wissenserwerb und die digitale Kompetenz messen.
  2. Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.
  3. Der Vorschlag der schwedischen Bildungsbehörde enthält keine konkreten Vorschläge, wie die Schulen bei der Umsetzung der Digitalisierungsstrategie vorgehen sollen, obwohl der Behörde sehr wohl bewusst sein muss, dass viele Schulen (insbesondere in benachteiligten Gebieten) große Schwierigkeiten haben, qualifizierte Lehrkräfte zu finden, und dass nur sehr wenige Lehrkräfte im Umgang mit digitalen Werkzeugen geschult wurden.“

Einige Kernsätze aus der Stellungnahme:

„Wie wir weiter unten ausführlicher erläutern, zeigt die Forschung, dass die Digitalisierung der Schulen in dem Ausmaß, wie sie in Schweden bereits stattgefunden hat, viele Nachteile mit sich bringt, und dass eine verstärkte Digitalisierung weitere negative Folgen haben könnte.“

„Es gibt eindeutige wissenschaftliche Belege dafür, dass digitale Werkzeuge das Lernen der Schüler eher beeinträchtigen als verbessern.“

„Wichtige schulpolitische Entscheidungen sollten nicht getroffen werden, ohne dass man vorher weiß, was die Forschung sagt.“

„Das Wissen über die negativen Auswirkungen der Digitalisierung ist also schon seit vielen Jahren vorhanden, aber die schwedische Bildungsbehörde scheint sich dessen nicht bewusst zu sein.“

„Wir verweisen auf eine kürzlich veröffentlichte Zusammenfassung des schwedischen Medienrats (Nutley & Thorell, 2022), in der ein positiver Zusammenhang zwischen der Bildschirmzeit und verschiedenen Aspekten der psychischen Gesundheit (z. B. Depressionen, Angst­zustände, Konzentrationsprobleme, geringes Selbstwertgefühl, Essstörungen, Schlafprobleme) und der körperlichen Gesundheit (z. B. Fettleibigkeit, Kurzsichtigkeit, schlechtere motorische Fähigkeiten) beschrieben wird.“

„Wenn digitale Werkzeuge bereits bei sehr kleinen Kindern im Vorschulalter einge­setzt werden, wird es für die Eltern unmöglich sein, die Empfehlungen zu befolgen, dass Kinder vor dem zweiten Lebensjahr keine Bildschirme benutzen sollten.

„Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die zunehmende Digitalisierung der Schulen unseres Erachtens bereits erheb­liche negative Folgen aufweist, da sie vermittelt, dass Wissen etwas Relatives ist – ein solcher Ansatz stellt eine ernsthafte Bedrohung für den Wissenserwerb der Schüler dar.“

„Wir sind der Meinung, dass der Schwerpunkt wieder auf den Wissenserwerb über gedruckte Schul­bücher und das Fachwissen des Lehrers gelegt werden sollte, anstatt das Wissen in erster Linie aus frei zugänglichen digitalen Quellen zu erwerben, die nicht auf ihre Richtigkeit überprüft wurden.“

Download

Stellungnahme des Karolinska-Institutes zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung (Schwedisch): Beslut om yttrande över förslag till nationell digitaliseringsstrategi för skolväsendet 2023–2027. (Ert dnr U2022/03951, vårt dnr 1-322/2023)

Deutsch:  Stellungnahme des Karolinska-Institutes zur nationalen Digitalisierungsstrategie  in der Bildung (2023)

(Übersetzung Diagnose Funk)

Diskutieren Sie in ihrem Umfeld über die Stellungnahme

Diese Stellungnahme ist keine Einzelmeinung einer Fakultät, sondern wurde von der Gesamt-Universität an die Politik übergeben. Die Karolinska-Universität ist eine der bedeutendesten Universitäten der nordischen Länder.

Verbreiten Sie diese wichtige, wissenschaftlich fundierte  Stellungnahme gegen die Frühdigitalisierung in Kitas und Grundschulen an Lehrer, Rektoren, Erzieher, Elternbeiräte und Politiker und diskutieren Sie über die notwendigen Konsequenzen für die Bildungseinrichtungen in Deutschland.

Von Peter Hensinger

 

Zeit für eine bildschirmfreie Vorschule

Zeit für eine bildschirmfreie Vorschule (Schweden)
Homepage Liberale Schweden

Originalartikel auf der Homepage der liberalen Partei (Samstag, 1. Juli 2023)

Die Digitalisierung hat die schwedischen Schulen mit voller Wucht erfasst. Heute ist es keine Seltenheit mehr, dass kleine Kinder im Vorschulalter vor Bildschirmen sitzen. Und das, obwohl die Forschung dringend davon abrät. Die Liberalen werden nun die Initiative ergreifen, um die Verwendung von Bildschirmen in Vorschulen zurückzudrängen.

Das Bildschirmexperiment in der Vorschule ist zu weit gegangen

Viele Vierjährige sitzen heute vor Bildschirmen, anstatt die Welt mit ihren eigenen Sinnen und Augen zu erkunden. Sie schauen sich Kröten auf dem Sofa statt Kröten im Teich an. Die WHO empfiehlt, dass Kinder im Alter von zwei bis fünf Jahren nicht mehr als 60 Minuten pro Tag am Bildschirm sitzen sollten. Mehrere Studien sind auch zu dem Schluss gekommen, dass Bildschirme das Lernen behindern, dennoch ist die Digitalisierung der Vorschule weitgehend kritiklos über die Bühne gegangen.

Experten von Universitäten wie dem Karolinska Institutet und der Universität Lund haben festgestellt, dass Kinder größere Schwierigkeiten haben, zu verstehen, was auf einem Bildschirm geschieht, als im wirklichen Leben. Studien bringen viel Bildschirmzeit mit einer schlechteren Sprachentwicklung in Verbindung und weisen darauf hin, dass der Unterricht an Bildschirmen aus Sicht des Lernens und der Entwicklung der Kleinsten eine Verschwendung darstellt.

Die Regierung hat daher kürzlich die nationale Digitalisierungsstrategie der Vorgängerregierung überarbeitet, die eine weitere Digitalisierung in der Vorschule vorsah.

Die Liberalen schlagen nun vor, die Bildschirmzeit für Kinder im Vorschulalter zu reduzieren.

Heute schreibt der Lehrplan für die Vorschule vor, dass Kleinkinder mit digitalen Werkzeugen umgehen müssen, aber die Liberalen wollen dies ändern. Stattdessen soll die Hauptregel im Vorschullehrplan lauten, dass der Unterricht ohne Bildschirme stattfindet.

„Schweden befindet sich in einer Schulkrise, und das Bildschirmexperiment in der Vorschule ist zu weit gegangen; hier sollte die Grundlage für die Schule gelegt werden. Kinder in der Vorschule sehen Kröten auf dem Sofa und nicht Kröten im Teich. Die Liberalen wollen daher die Verpflichtung zur Nutzung digitaler Hilfsmittel in der Vorschule aufheben“, sagt Johan Pehrson, Parteivorsitzender der Liberalen.

„Es ist offensichtlich, dass Bildschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen. Wir wissen, dass menschliche Interaktion für das Lernen in den ersten Lebensjahren entscheidend ist. Bildschirme haben in Vorschulen einfach nichts zu suchen“, sagt Bildungsministerin Lotta Edholm.

(Übersetzt mit DeepL)

Zum Originalartikel: https://www.liberalerna.se/nyheter/dags-for-skarmfri-forskola

Artikel Aftonbladet: Pehrson: Förskolan ska vara skärmfri

ChatGPT in der Schule ist Zeitverschwendung

ChatGPT ist ein Werkzeug für Menschen, die automatisierte Prozesse verstehen und einordnen können, sagt Digital-Kritiker Ralf Lankau. Für den Unterricht sieht er keinerlei Potential, aber eine große Gefahr.

Von Uwe Ebbinghaus (FAZ) 19.06.2023

Herr Lankau, Sie sehen Lehrer, die ChatGPT im Unterricht einsetzen, kritisch. Wogegen richtet sich Ihre Kritik genau?

Meine Kritik richtet sich gegen den unreflektierten und nicht nach Altersstufe differenzierten und zu frühen Einsatz von Werkzeugen wie ChatGPT. Das Werkzeug, das wir Künstliche Intelligenz nennen, ist nichts anderes als automatisierte Datenverarbeitung. Um es sinnvoll einsetzen zu können, muss ich sowohl Verständnis für die Technik dahinter haben als auch für die Mechanismen, in die KI eingebettet ist. Es muss klar sein: Bei ChatGPT habe ich es mit einem Tool zu tun, das entwickelt wurde für Menschen, die beurteilen können, ob das, was als Text, Grafik oder Programmcode ausgegeben wird, auch tatsächlich korrekt ist. Dieses Werkzeug ist eine Erleichterung für all jene, die ein Vorwissen haben. Wer dies nicht hat, ist dem System, den hinterlegten Daten und Mechanismen vollständig ausgeliefert.

Wenn ich ChatGPT im Unterricht einsetze, kommt es also immer auf die Altersstufe und das Vorwissen an. Wenn das Vorwissen fehlt, wie unterhalb der Mittel- und Oberstufe zu erwarten, ist KI aus meiner Sicht ungeeignet für den Unterricht. Dann ist es allenfalls eine nette Spielerei ohne echten Erkenntnisgewinn.

Link zum vollständigen Interview bei der FAZ (Online):

Lernen mit KI : ChatGPT in der Schule ist Zeitverschwendung

Und wieder ruft der (Ro)Bot, grüßt das Murmeltier

Tech-Experten und Wissenschaftler fordern ein Moratorium für KI

Im November 2022 hat das US-Unternehmen OpenAI den Textgenerator ChatGPT frei zugänglich ins Netz gestellt. Seither wurde ein regelrechter Hype um diese und vergleichbare Anwendungen inszeniert. Im März 2023 veröffentlichten mehr als 1000 Experten und Wissenschaftler aus der Tech- und KI-Forschung einen Offenen Brief, der ein Moratorium und den sofortigen Stopp der öffentlichen Experimente mit KI-Bots wie ChatGPT, Dall-E-2 und ähnlichen Bots fordert. Von Ralf Lankau

Der Text als PDF (10 Seiten: Lankau (2023) KI-Moratorium

Seit ein paar Monaten scheint es in der Netzwelt und bei ihren Apologeten und Propagandisten, aber auch in den Medienkanälen nur noch ein Thema zu geben: (Ro)Bots wie ChatGPT oder Bard, Dall-E 2, Stable Diffusion und ähnliche Programme, die automatisiert Texte, Bilder, Präsentationen oder Videos anhand von Sprach- oder Texteingaben (sogenannten „Prompts“) generieren. Generative KI bedeutet, kurz gefasst, dass IT-Systeme mit vorhandenen Daten (Texte, Audiodateien, Bildern etc.) trainiert werden, darin Muster erkennen und mit Hilfe vom Mustererkennung, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik (das ist die Basis von KI) digitale Artefakte generieren, das heißt aus vorhandenen Bausteinen Neues zusammenstellen. Die Ergebnisse sind ähnlich zu dem, was Menschen erzeugen. Zum Teil sind die automatisierten Ausgaben der Programme nur schwer oder gar nicht von dem zu unterscheiden, was Menschen machen, wie z.B. die Diskussionen zu automatisiert generierten Prüfungsleistungen in (Hoch)­Schulen zeigen.

Das gelingt, weil menschliche Zeichensysteme wie z.B. Verbal- oder Programmiersprachen, Kompositionstechniken der Musik oder der visuellen Gestaltung Regelsysteme sind, die sich auf den Ebenen von Syntax (Regelsystem für den Sprachaufbau), Grammatik (systematische Analyse der Struktur des Zeichensystems und Regeln für die Kombinatorik der Elemente zu korrekten Sätzen, Aussagen oder Kompositionen) und Semantik (Bedeutungslehre der Zeichen) analysieren lassen. Die Regelhaftigkeit medialer Systeme ist die notwendige Voraussetzung, um sie digital abzubilden. Regeln lassen sich mathematisch formulieren und hierarchisieren. Mit Hilfe solcher Regelsysteme lassen sich Texte, Code oder audiovisuelle Kompositionen berechnen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit „echt“ wirken. Technische Details sind vielfach beschrieben. (1) Hier geht es um das Prinzip. Statt selbst etwas zu schreiben oder zu gestalten, gibt man nur noch Anweisungen. Ein Programm liefert vermeintlich gültige Ergebnisse. Begeistert wird über Leistungsfähigkeit und das Leistungsspektrum dieser Anwendungen berichtet (was der Bot alles kann), über technische Parameter (Terrabyte an Trainingsdaten, eine Billion und mehr Parameter etc.) und behauptet, dass jetzt endlich der Durchbruch der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ gelingen könne.

Endlich, weil es bereits der dritte Versuch ist, mathematischen Modelle als Intelligenz zu etablieren. (2) Auf den Hype folgt regelmäßig die Ernüchterung (die sogenannten KI-Winter). Endlich vor allem, weil die IT-Monopole des Silicon Valley dringend etwas Neues brauchen, dass man den Nutzerinnen und Nutzern verkaufen, mit dem man sie noch fester an sich binden kann. Der Offene Brief kritisiert daher nicht die Prinzipien und Anwendungen der KI, sondern die vorzeitige Kommerzialisierung ohne existierende Regelwerke für den Einsatz und die notwendige Begrenzung von KI-Anwendungen. Die Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 folgte ja der Logik des Wettbewerbs. Microsoft versucht, durch die Integration von ChatGPT in seine Suchmaschine „Bing“ Google Marktanteile bei Werbeplätzen abzunehmen.

Die Suche nach dem New Big Thing heißt: Das erste Smartphone kam 2007 auf den Markt, der mittlerweile selbst mit Zweit- und Drittgeräten gesättigt ist. Es gibt Millionen von Apps, für jede nur denkbare Aufgabe ein paar hundert oder tausend Lösungen. Auch das Geschäft mit sozial nur genannten Medien, das Nutzerdaten sammelt, um Werbung zu schalten und vor allem die Betreiber der Plattformen reich macht, stagniert. Es fehlen neue Ideen. Jetzt sollen diese Bots die User wieder an die Bildschirme bringen. Und es funktioniert. Wer hat noch nicht mit ChatGPT gechattet, sich Texte oder Gedichte schreiben lassen, Bilder mit Dall-E oder Stable Diffusion generiert?

Die KI-Leitsätze von Asilomar

Ausgerechnet jetzt gibt es aber Einspruch, zudem von Menschen, die diese Techniken entwickeln und ihre Potentiale als zukunftsweisend propagieren. Diese Kritiker sind keine Ludditen (Maschinenstürmer), sondern überzeugte Entwickler und Nutzer moderner Technologien. Viele sind assoziiert mit dem Future of Life-Institute, das sich laut Homepage zur Aufgabe macht, „transformative Technologien weg von extremen, groß angelegten Risiken und hin zum Nutzen des Lebens zu lenken.“ Drei Technologien hätten „weitreichende Folgen für alles Leben auf der Erde“: Künstliche Intelligenz, Biotechnologie und die Kerntechnik. Diese Techniken und ihre Anwendungen werden durch den Offenen Brief nicht generell in Frage gestellt, sondern nur der „unsachgemäße Umgang“ als Kehrseite der Medaille thematisiert:

„Bei richtiger Handhabung könnten diese Technologien die Welt in einer Weise verändern, die das Leben wesentlich verbessert, sowohl für die heute lebenden Menschen als auch für alle, die noch geboren werden müssen. Sie könnten eingesetzt werden, um Krankheiten zu behandeln und auszurotten, demokratische Prozesse zu stärken und den Klimawandel abzumildern oder sogar aufzuhalten.

Bei unsachgemäßem Umgang könnten sie das Gegenteil bewirken. Sie könnten zu katastrophalen Ereignissen führen, die die Menschheit in die Knie zwingen und uns möglicherweise sogar an den Rand des Aussterbens treiben.“ (AI Principles, https://futureoflife.org/about-us/)

Die Kritiker berufen sich mit ihrem Brief auf die 2018 formulierten KI-Leitsätze von Asilomar, bei denen in 27 Punkten Richtlinien formuliert wurden.(3) Diese Grundsätze formulieren eine Ideologie des Technikdeterminismus und Utilitarismus, die vom Glauben an Fortschritt und Machbarkeit geprägt sind. Malte Rehbein (2018) und die Vereinigung Deutscher Wissenschaft haben in einer Stellungnahme zu ethischen, politischen und rechtlichen Fragen der Erforschung, Entwicklung und Anwendung von KI die Grundsätze als nicht weitreichend genug kritisiert.

„Unsere Prüfung der Prinzipienkatalogen hat ergeben, dass diese der Logik einer erfolgreichen Gefahrenabwehr nicht gerecht werden. Würde die Einhegung der K.I. lediglich der Expertise der Asilomar-Prinzipien folgen, würde aus unserer Sicht, ein Risiko in existentieller Größenordnung in Kauf genommen, welches zu anderen Gefährdungen der Menschheit gleichrangig zu sehen ist und für die die Notwendigkeit und Logik unbedingter präventiver Gefahrenabwehr bereits akzeptiert ist.“ (VDW 2018, S. 2)

Die gegensätzlichen Positionen (Asilomar Grundsätze zu KI vs. Stellungnahme der VDW) charakterisieren prototypisch gegensätzliche Sichtweisen und Wissenschaftskulturen. Im Silicon Valley herrscht typischerweise eine positivistische Philosophie des Solutionism (vom englisch „Solution“ für Lösung ).Versprochen wird „Weltverbesserung“ durch Big Data und IT. Alle gegenwärtigen und sogar die Probleme zukünftiger Generationen ließen sich mit KI lösen. Die Studiengruppe der VDW fordert hingegen eine „breite, zielgerichtete, gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskussion“ in der Tradition der Technikfolgeabschätzung (TA), bei der nicht nur Befürworter und deren Verbände und Unternehmen zu Wort kommen, sondern die notwendige Multiperspektivität und eine qualifizierte, mehrheitliche, nicht zuletzt demokratisch legitimierte Zustimmung, Vorsorge und letztlich auch die notwendige Kontrolle sicher zu stellen sei:

„Als problematisch wird von der VDW-Studiengruppe vor allem angesehen, dass die Prinzipien auf Basis einer (impliziten) exklusiven Utopie-Prämisse entstanden sind, die davon ausgeht, dass grundsätzlich eine grenzenlose Technologieentwicklung bzw. -anwendung möglich ist, die nur in Einzelfällen einer Regulierung bedarf. (…)
Es bedarf effektiver staatlicher (und multilateraler) Strukturen und Sanktionsmechanismen, um sicherzustellen, dass K.I. jederzeit kontrollierbar ist. Dies gilt für alle Phasen von F+E und Anwendung. Vor allem Markteinführungen dürfen erst nach Abschluss hinreichender Sicherheitsbewertungen erfolgen. Hierbei sind beispielsweise umfangreiche Prüfungen in lebensnahen Szenarien notwendig. Technische Expertise ist dabei unterstützend erforderlich, darf aber ebenso wenig wie wirtschaftliche Interessen maßgeblichen Einfluss in Regulierungsfragen haben. Auch bedarf es einer technisch informierten, umfassenden, weltweit funktionierenden, demokratischen Kontrolle von Forschung und Entwicklung in diesem Bereich.“ (VDW 2018, 26ff)

Interdisziplinäre Diskussion

Was Deutschland (und Europa) derzeit fehlt ist der ergebnisoffene, interdisziplinäre Diskurs anstelle des fortschrittsgläubigen Technikdeterminismus und Utilitarismus. KI kann demokratische Gesellschaften und Strukturen untergraben und manipulieren, wie der Einfluss von digitalen Medien als Propagandainstrument beim Brexit oder den US-Wahlkämpfen (Stichwort Cambridge Analytics) gezeigt hat oder aktuell der Einsatz von TikTok als Propagandainstrument im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine belegt.

In demokratischen Staaten entscheiden (noch?) die gesetzgebenden Institutionen darüber, welche Techniken eingesetzt und wie deren Einsatz beschränkt werden muss. Investoren wie Peter Thiel fordern dagegen gewohnt marktradikal und libertär die Abschaffung der staatlichen Einrichtungen und Demokratie. „I no longer believe that freedom and democracy are compatible“(4). Stattdessen sollen IT-Unternehmen die Gesellschaft steuern (die Daten dafür haben sie, mehr als jede rechtsstaatliche Institution sammeln darf). Die Reduktion von Freiheit auf unternehmerische Freiheit war schon 2009 Thiels Credo und korrespondiert mit Aussagen von Larry Page, der fordert, IT-Unternehmen müssten über dem Gesetz stehen dürfen:

„Es gibt eine Menge Dinge, die wir gern machen würden, aber leider nicht tun können, weil sie illegal sind. Weil es Gesetze gibt, die sie verbieten. Wir sollten ein paar Orte haben, wo wir sicher sind. Wo wir neue Dinge ausprobieren und herausfinden können, welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft haben.“ (Larry Page, zit. n. Keese 2014, S. 219 f.)

Der Vorschlag, Rechenzentren als schwimmende Städte in internationale Gewässern auszulagern, wo nur noch internationales Seerecht statt nationalstaatlicher Gesetze gelten, wurde bislang nicht realisiert. Dafür experimentieren Microsoft und OpenAI derzeit mit ChatGPT und anderen Bots in einem offenen Feldversuch, welche Auswirkungen durch KI sich beobachten lassen. Die Bevölkerungen werden zu Beta-Testern, ohne Rücksicht auf die Folgen für Individuen wie Gemeinschaft. Daher der Ruf nach einem Moratorium und die Diskussionen über Regeln und Grenzen für solche Anwendungen.

Diskussionsbedarf und Gegenstimmen

Einige Stimmen gibt es bereits. Der Deutsche Ethikrat hat sich aktuell für die strikte Begrenzungen bei der Verwendung von Künstlicher Intelligenz u.a. in Medizin (Kap.5) und Bildung (Kap. 6) ausgesprochen. KI dürfe den Menschen nicht ersetzen, der Einsatz von KI müsse menschliche Entfaltung erweitern, nicht vermindern. Softwaresysteme verfügten weder über Vernunft noch würden sie selbst handeln und könnten daher auch keine Verantwortung übernehmen, so Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. (Ethikrat 2023).

Armin Grunwald, Professor für Technikphilosophie und Technikethik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung des Deutschen Bundestags, sprach schon 2019 von der „Gretchenfrage“, die zu stellen sei, und fordert zur reflektierten Gegenwehr gegen Machtbestrebungen auf:

»Wir müssen ernsthaft die Frage stellen: Wer sind die Macher der KI, wer verbreitet die Erzählungen und wer will hier eigentlich seine Werte und Interessen hinter einem vermeintlichen Technikdeterminismus verstecken? Denn auch in der Welt mit KI dient Technikdeterminismus einer Ideologie der Mächtigen. Er verschleiert, dass jede KI gemacht wird, von Menschen in Unternehmen und Geheimdiensten, nach deren Interessen, Werten und Weltanschauungen« (Grunwald 2019)

Italien sperrt als erstes europäisches Land ChatGPT im Netz und lässt selbst für Erwachsene nur noch eine eingeschränkte Nutzung zu. Der Grund: Verstöße gegen den Daten- und Jugendschutz. Es gäbe keine angemessenen Filter oder Sperren für Kinder unter 13 Jahren, die selbst nach den Geschäftsbedingungen des Anbieters die Software nicht nutzen dürfen. Auch würde Nutzerinnen und Nutzern nicht mitgeteilt, welche Informationen über sie gespeichert würden. Das seien eklatante Verstöße gegen die Europäische Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO), die mit einer Strafe von bis zu 20 Millionen Euro oder bis zu vier Prozent des Jahresumsatzes geahndet werden könne. Die italienischen Behörden haben eine Frist von 20 Tagen zur Behebung der Missstände gesetzt.(5) Die Datenschutzverordnung gilt seit Mai 2018 in allen Ländern der EU, auch in Deutschland.

Selbst der ehemalige amerikanische Präsident, Barack Obama, der für seine Wahlkämpfe um das Amt des US-Präsidenten in den Jahren 2008 und 2012 sehr erfolgreich Facebook nutzte, referierte im April 2022 (nach vier Jahren Regierung Trump, in denen das destruktive Potential von Fake-News und populistischen Medien zum Sturm auf das Parlament in Washington geführt hatte), vor Studierenden in Stanford über ausgeblendete Folgen der Netztechnologien. Desinformation durch Social Media-Kanäle sei eine Bedrohung für die Demokratie. Der Staat sei aufgefordert, IT-Konzerne in die Pflicht zu nehmen und zum Wohl und Schutz der Bevölkerung zu regulieren, übrigens auch zum Nutzen der Unternehmen selbst.

„Während sich die Unternehmen anfangs immer beschweren, dass die Vorschriften die Innovation abwürgen und die Industrie zerstören, ist es in Wahrheit so, dass ein gutes regulatorisches Umfeld in der Regel die Innovation fördert, weil es die Messlatte für Sicherheit und Qualität höher legt.“(Obama, 2022)

Der Gouverneur von Utah, Spencer Cox, hat zwei Gesetze unterzeichnet, die die Social-Media-Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen stark einschränken. Die beiden Gesetze (Senate Bill 152 und House Bill 311) definieren u.a. ein Nutzungsverbot zwischen 22.30 Uhr und 6.30 Uhr, verlangen Altersnachweise, verbieten Werbung an Minderjährige und die Verwendung von Designelementen oder Funktion, die bei Minderjährigen eine Abhängigkeit von (Social)Media-Plattformen verursachen. Die Sperrung von Konten von Minderjährigen in Suchergebnissen wird ebenso Pflicht wie das Verbot von Direktnachrichten von Externen an Kinder, zwei Funktionen, die zur Kontaktaufnahme mit Kindern missbraucht werden.

„Wir sind nicht länger bereit, zuzulassen, dass Social-Media-Unternehmen die psychische Gesundheit unserer Jugend schädigen. (…) Utah ist führend, wenn es darum geht, Social-Media-Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen – und wir werden in nächster Zeit nicht nachlassen. (…) Helfen Sie uns, unsere Kinder vor den Gefahren der sozialen Medien zu schützen.“ (Utah 2023) (https://socialmedia.utah.gov/; dt. siehe Lankau 2023)

Deutschland im Vernunft-Winter (6)

In Deutschland hingegen hat sich in der Ampelkoalition die kleinste Fraktion mit ihrer vernunftfreien Parole des „Digital first. Bedenken second“ durchgesetzt. Auf 177 Seiten des Koalitionsvertrags vom Dezember 2021 steht fast 270 Mal der Begriff „digital“ in allen nur denkbaren Varianten, ohne auch nur zwischen Infrastruktur, Diensten und Folgen für den Einzelnen wie die Gemeinschaft zu differenzieren. Es ist die gleiche Naivität und Unbedarftheit, die unter dem Begriff der „Technologieoffenheit“ Deutschlands Ansehen in Brüssel beschädigt, um einer sehr kleinen Gruppe von sehr wohlhabenden Autofahrern das Fahren mit Verbrennungsmotoren und E-Fuels zu ermöglichen. Klientelpolitik schlägt Verantwortung für Gemeinschaft und Gemeinwohl. Das konsequente Ausblenden der technischen wie wirtschaftlichen Zusammenhänge beim Auf- und Ausbaus der IT-Infrastruktur und Netzwerke ist offenbar die Konstante einer Technikbegeisterung, die sich von einer „Bundesagentur für Sprunginnovationen“ (7) bis zu bloggenden Lehrern aufzeigen lässt, die mal schnell vom „Ende vom Lernen wie wir es kennen“ (8) phantasieren und publizieren, „warum und wie Lehrkräfte das Tool [ChatGPT; RL] schon jetzt für den Unterricht und für ihre Vorbereitungen nutzen können“.

Es wird ignoriert, dass eine Applikation mit intransparenter, sich permanent ändernder Datenbasis und ebenso intransparenten Algorithmen für die Auswahl und Zusammenstellung der automatisierten Antworten als Lehr- und Lernmedium ungeeignet ist. Schülerinnen und Schüler haben ein Recht darauf, in der Schule Fakten und Zusammenhänge zu lernen, die sich nicht zufällig nach Datenbestand und derzeitigen Parametern von Algorithmen ändern und bei denen sich Inhalte nach den jeweiligen Interessen der Anbieter ein- und ausblenden und beliebig in Rankings verschieben lassen. Solche Bots eignen sich im Unterricht allenfalls als Anschauungsmaterial für das Generieren von nur nach Wahrscheinlichkeitsparametern berechneten, eben: generischen Inhalten. Neben falschen Antworten halluzinieren (erfinden) aktuelle Bots Fakten und Daten, wenn sie keine Antwort geben können statt die Antwort zu verweigern. (Menge-Sonnentag 2022; Weiß 2023 u.a.) Das sind Logik- und Programmierfehler, wobei die Entwickler dieser komplexen Systeme oft selbst nicht mehr wissen, was die Programme tun. Es ist das bekannte Phänomen des Zauberlehrlings, der etwas anstößt und nicht mehr stoppen kann, einer der Gründe für die Forderung nach einem Moratorium.

ChatGPT & Co. sind Beispiele dafür, welche Form von Applikationen sich weder für die Recherche noch für das Lehren und Lernen eignen. In Bildungseinrichtungen wird ja erst die Basis für valides Wissen gelegt.Wer (noch) nichts weiß, kann nicht wissen, ob etwas richtig oder was falsch ist. Das ist so selbstverständlich wie trivial. Lassen Sie sich probeweise einen Text von einem sehr guten Übersetzungsprogramm wie Deep-L in ein Sprache übersetzen, die Sie nicht beherrschen. Wie wollen Sie das Ergebnis überprüfen? Es gilt das Matthäus-Prinzip: Wer (Vorwissen) hat, dem wird (ein hilfreiches Werkzeug) gegeben. Aber nur Wissende können das Ergebnis fachlich beurteilen und ggf. korrigieren. Alle anderen müssen: glauben.

Zu vermitteln ist daher in Bildungseinrichtungen der Umgang mit seriösen Informationsbeständen in analogen wie digitalen (Fach)Bibliotheken, das Arbeiten mit relevanten Fachinformationsdiensten und mit Medien von Bildungsservern, Fachverlagen und Berufsverbänden. Nicht das technische Format der Materialien und Medien ist entscheidend, sondern die Seriosität der Anbieter. Für Schulen kommt ohnehin nur von Fachleuten erstelltes und von den Kultusministerien der Länder für den Unterricht freigegebenes Material in Frage.

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, mit der sie entstanden sind“ soll Albert Einstein gesagt haben. Es bedeutet, dass man die Frage, wie mit IT und KI umgegangen werden soll, nicht (nur) Informatikern, Ingenieuren und Technikern überlassen darf, die diese Systeme und Infrastruktur entwickelt haben. (9) Gefragt sind interdisziplinäre ethische, gesellschaftliche und politische Diskussion, wer Techniken wie KI und Bots für was einsetzen darf, wer die Grenzen des Zulässigen definiert, wer die Einhaltung der Regeln kontrolliert und ggf. sanktioniert. Das sind in demokratischen Staaten die verfassungsgemäßen Organe, an die sich auch international agierende IT-Unternehmen halten müssen. Andernfalls bestimmen sehr wenige, sehr reiche Männer mit ihren Partikularinteressen und ihrem autokratischen, zum Teil irrationalen Verhalten, wie gesellschaftsverändernde Technologien das Zusammenleben bestimmen (sollen).

Hier sei daher in aller Deutlichkeit formuliert: Wir müssen aufhören, von Digitalisierung, digitaler Transformation und Digitalität zu sprechen als sei (Digital)Technik etwas, die man notwendig nutzen, an das man sich anpassen und deren Logik man sich unterordnen müsse. Diese Form des Fatalismus, exemplarisch vermittelt unter dem Stichwort „Kultur der Digitalität“ (Stalder 2016) blendet vorsätzlich und wissentlich aus, dass hinter den Entwicklungen von „smarten“ (d.h. datenbasierten) Technologien Menschen und Unternehmen mit konkreten wirtschaftlichen Interessen stehen.

„Ganz konkret ist, frei nach Immanuel Kant, das Austreten aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit des Nachplapperns technikdeterministischer Erzählungen angesagt“ (Grunwald 2019).

Die Aufgabe demokratischer Staaten, ihrer Institutionen und der Bürgerinnen und Bürgern ist es, die rechtlichen, kulturellen, sozialen und technischen Rahmenbedingungen für eine (digitale) Souveränität zu erarbeiten. Das Erfreuliche: Es gibt Alternativen. Für das Web hat das der „Vater des Web“ und Professor am MIT in Massachusetts, Tim Berners-Lee, bereits 2019 mit seinem „Contract for the Web“ (10) formuliert, der alle Beteiligten in die Pflicht nimmt:

„Das Web wurde entwickelt, um Menschen zusammenzubringen und Wissen frei verfügbar zu machen. Jeder Mensch hat die Aufgabe, sicherzustellen, dass das Web der Menschheit dient. Indem sie sich den folgenden Grundsätzen verpflichten, können Regierungen, Unternehmen und Bürger weltweit dazu beitragen, das offene Web als öffentliches Gut und Grundrecht für jeden Menschen zu schützen. (https://contractfortheweb.org/de/252-2/)

Für KI und Bots sind solche Prämissen erst zu formulieren. Das fordert das Moratorium, dabei helfen Stellungnahmen des Ethikrats und der VDW, ergänzt um weitere Positionen aus Politik, Kultur und Wissenschaft. Das ist anstrengend und erfordert einen intensiven, interdisziplinären Diskurs. Aber genau das ist notwendig und konstituierend für den Einsatz von Technologien in Demokratien

Der Text als PDF (10 Seiten: Lankau (2023) KI-Moratorium


Anmerkungen

  1. Z.B. Helmut Linde (2023) Künstliche Intelligenz: So funktioniert ChatGPT, Golem, veröffentlicht am 6.2.23; Thomas van Bosch (2023) From Eliza to ChatGPT: the stormy development of language models;  (1.4.2023)
  2. Kybernetik (Norbert Wiener) und Artificial Intellgence (John McCarthy und Dartmour-Conference, 1956), Expertensysteme in den 1980er Jahren, KI-Systeme und Bots heute.
  3. AI Principles, https://futureoflife.org/open-letter/ai-principles/; deutsch: https://futureoflife.org/open-letter/ai-principles-german/ (31.3.23)
  4. Thiel, Peter (2009) The Education of a Libertarian, April 13, 2009; (1.4.23)
  5. Tagesschau (2023) Künstliche Intelligenz: Italien sperrt ChatGPT; (31.3.23)
  6. KI-Winter werden die Phasen genannt, in denen Kybernetik und KI nicht promotet, Professuren nicht mehr besetzt, Inhalte nicht oder unter anderen Titeln gelehrt werden.
  7. Siehe: https://www.sprind.org/de/  Lesen Sie den „Leitfragen Sprunginnovationen“ und beantworten Sie mit dem Onlineformular für Förderanträge  die Fragen 1-17, darunter die Frage 3: „Wie würde eine Welt aussehen, in der Ihre potentielle Sprunginnovation erfolgreich umgesetzt wurde? Inwiefern verändert sich z.B. unser Leben oder das bestehende Marktgefüge?“ Wichtig: Nur vollständig ausgefüllte Formulare werden bearbeitet!
    Das ist keine Persiflage. Es ist das Resultat, wenn eine Bundesagentur den Silicon-Valley-TedTalk-StartUp-Slang kopiert. Zugleich entlarvt die Frage in nur einem Satz die „bessere Welt“-Propaganda als kommerziell und marktgetrieben
  8. Dt. Schulportal: https://deutsches-schulportal.de/kolumnen/chatgpt-das-ende-vom-lernen-wie-wir-es-kennen/ (1.4.23)
  9. Die Corona-Pandemie hat exemplarisch gezeigt, wie einseitig auch die wissenschaftlich fundierte Beratung durch Experten ist, wenn nur z.B. Virologe und Epidemiologen befragt werden und die Expertise über die Bedeutung von Kontaktverboten, Schulschließungen durch Pädiater, Psychologen, Soziologen u.a. ausbleibt.
  10. Contract for the Web: https://contractfortheweb.org/

Literatur und Quellen

Ethikrat (2023) Veröffentlichung der Stellungnahme ‚‚Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz“ mit PDF-Downloads der Empfehlung, Illustration, Statements und PM, 20. März 2023, https://www.ethikrat.org/pressekonferenzen/veroeffentlichung-der-stellungnahme-mensch-und-maschine/ (20.03.2023)

Future of life-Institute (2023) Pause Giant AI Experiments: An Open Letter; https://futureoflife.org/open-letter/pause-giant-ai-experiments/

Grunwald, Armin (2019) Gretchenfrage 4.0, in: SZ vom 26.12.2019, S. 9

Keese, Christoph (2014) Silicon Valley. Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, München: Penguin

Menge-Sonnentag, Rainald (2022) Kommentar: ChatGPT – keine Intelligenz, keine Panik!, Heise online: „Sprachmodelle neigen zum Halluzinieren: Was sie nicht wissen, erfinden sie. Meta musste Galactica schon nach kurzer Zeit wieder zurückziehen, da das mit 48 Millionen Abhandlungen und Forschungsdokumenten trainierte Modell überzeugende, scheinbar wissenschaftliche Texte erzeugt hatte, die jedoch frei erfunden waren.“, l (2.4.23)

Obama, Barack (2022) Disinformation Is a Threat to Our Democracy. Tech platforms need to recognize that their decisions have an impact on every aspect of society; Vortrag am 21.4.2022, Stanford University; (24.4.2022)

Rehbein, Malte (2018) Die „Asilomar AI Principles“ zu Künstlicher Intelligenz, in: Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V., Heft 1/2018, S. 24-26;  (31.3.2023)

Seising, Rudolf (2021) Es denkt nicht. Die vergessene Geschichte der KI, Frankfurt: Büchergilde

Stalder, Felix (2016) Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp

Utah 2023: Utah Protecting Minors Online; dt. und Kommentar siehe Lankau 2023 – Die Botschaft des Gouverneurs,  (2.4.23)

Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW 2018) Stellungnahme zu den Asilomar-Prinzipien zu künstlicher Intelligenz. Studiengruppe Technikfolgenabschätzung der Digitalisierung (PDF);  (30.3.2023)

Weiß, Eva Maria (2023) Google Suche: Mehr Funktionen, Informationen zu verifizieren. Google möchte Nutzern mehr Möglichkeiten an die Hand geben, Fakten von Fiktion zu unterscheiden. Ein Seitenhieb auf die KI-Halluzinationen? Heise (2.4.23)

Wiener, Norbert (1948) Cybernetics or Control and Communication in the animal and the machine (dt.: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, 1963)

Die pädagogische Wende

Eine zeitgemäße Verortung von Erziehung und Unterricht

20pxHS Offenburg 20px  Gesllschaft für Bildung und Wissen e.V.
20px 20px futur-iii

PDF-Datei Call for Papers: Die pädagogische Wende


Sie sind …  | Machen Sie mit … | Organisation und Termine … | Der Hintergrund …  | Literatur

Sie sind …

… Erzieherin oder Erzieher, Erziehungswissenschaftlerin oder -wissenschaftler, studieren für ein Lehramt bzw. sind schon Lehrerin oder Lehrer, arbeiten in der Schulleitung oder bei einem Schulträger und tragen das gemeinsame Ziel dieses Projekts mit: Schulen als Möglichkeitsräume einer mündigkeitsorientierten Erziehung zu gestalten, das Begreifen von gesellschaftlichen und lebensweltlichen Strukturen zu reflektieren und Bildungseinrichtungen als Orte des sozialen Miteinanders zu realisieren? Dann freuen wir uns auf Ihren Beitrag. In Vorbereitung sind ein Grundlagenband mit Beiträgen aus der Erziehungswissenschaft, Didaktik, Lernpsychologie, den Fachwissenschaften und der Schulpraxis. Parallel entsteht eine Website mit Online-Beiträgen und digitaler Bibliothek mit Beiträgen und Links. Dazu planen wir eine Fachtagung im Mai oder Juni 2024.

Im Grundlagenband publizieren wir praxisnahe Konzepte für Präsenzunterricht und das Lernen in Gemeinschaft sowie theoriebasierte Grundlagentexte. Medientechnik im Unterricht ist ebenso Thema wie Analysen zu den Dimensionen schulischer Erziehung und des Unterrichtens angesichts digitaler Transformationsprozesse. Die Beiträge der Website können breiter gestreut werden und stehen als „Open Access“ unentgeltlich im Netz. Um sich einzulesen und Sie zur Teilnahme zu motivieren, empfehlen wir den Text von Klaus Zierer zum Sokratischen Eid des Lehrens (Zierer 2022), die „Texte aus Stans“ des Schweizer Kollegen Carl Bossard als Referenz an den Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (Bossard, o.J.) sowie die immer noch aktuelle Schrift „Verstehen lehren“ von Andreas Gruschka (2011), an deren Zielbestimmung wir festhalten, insofern es auch uns um die Frage geht, „[…] wie eine Reform der Schule und des Unterrichts erfolgen könnte, die nicht mit der Eigenstruktur des Pädagogischen bricht, sondern ihr erfolgreich zu neuer Geltung verhilft.“ (ebd., S. 19f.).

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Machen Sie mit

Ausgangspunkt dieses Projekts ist die Diskrepanz zwischen pädagogischen Erkenntnissen, Prämissen und Denkweisen und gegenwärtigen Digitalisierungsstrategien im Raum Schule, die von Bereichen der empirischen Bildungsforschung und wirtschaftsnahen Verbänden unterstützt wird. Damit verbunden ist der Anspruch einer digitalbasierten Transformation des Bildungs- und Erziehungssystems. Dem widersprechend müssen Erziehung und Bildung als pädagogisches Primat, mit den (in den Landesverfassungen hinterlegten) Zielen übereinstimmen und dürfen nicht mit den Vorstellungen einer möglichst frühen (und lebenslang andauernden), kleinteiligen Lernleistungsvermessung zum Zwecke einer bildungsökonomischen Nutzung kindlicher Humanressourcen zusammenfallen.
Vor dem Hintergrund wollen wir pädagogische Theorie und Praxis in einen produktiven Dialog bringen und fragen:

  • Wie lassen sich, unter den gegenwärtigen Bedingungen, Bildungseinrichtungen an den Bedürfnissen der Lernenden gemäß den Entwicklungsstufen (anthropologische Ontogenese) des Menschen ausrichten?
  • Wie lässt sich erkennen und realisieren, dass pädagogisches Arbeiten notwendig personengebunden, individuell und interpersonal ist?
  • Wie erreichen wir eine Stärkung der Erziehung, die Widerständigkeit nicht einebnet oder ausschließt, sondern mit dem Ziel der Mündigkeit auf die Entwicklung stabiler Persönlichkeitsstrukturen in sozialen Zusammenhängen zielt?
  • Mit welchen Unterrichtsformen gelingt die Auseinandersetzung mit kulturellen Beständen (zu denen auch die Digitaltechnik zählt), sodass die Schülerinnen und Schüler als selbstbestimmte daraus hervorgehen?
  • Mit welchen Verschiebungen von (schulischen) Bildungs- und Erziehungsvorstellungen geht das digitale Lernen einher?
  • Wie stellt sich die Umsetzung einer digitalen Schulorganisation (Klassenbuchführung, Stundenplanung, Kommunikation) aus einer pädagogischen Perspektive dar?
  •  Inwiefern kommt pädagogischen Reflexionen über das Verhältnis von Bildung, Erziehung und Digitalisierung im Schulalltag Relevanz zu?

Für diese und weitere Fragen suchen wir Grundlagentexte, Erfahrungsberichte, Beispiele aus der Praxis, Werkstattkonzepte (analog und digital mit Open Source-Anwendungen, ohne Learning Analytics und Profilierung), Dokumentationen von Workshops zu Theater, Musik, Kunst, Hackatons u.v.m.

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Organisation und Termine

Bitte reichen Sie eine kurze Beschreibung Ihres Themas und/oder Projekts ein. Die Beitragsskizzen (Abstracts) mit einem Umfang von bis 2500 Zeichen werden bis zum 28.2.2023 erbeten an: redaktion@die-paedagogische-wende.de. Sie bekommen bis Ende März 2023 die Rückmeldung, ob Ihr Beitrag thematisch zu diesem Projekt passt und im Buch oder auf der Website publiziert werden kann. Die Abgabe der Buchbeiträge ist für den 30. Juni 2023 terminiert, Details folgen. Online-Beiträge können jederzeit eingereicht werden. Die Website geht Mitte 2023 online. Die Fachtagung findet parallel zur Buchpublikation im Mai oder Juni 2024 statt.
Wir freuen uns auf Ihr Feedback und Ihre Beiträge!

Kontakt

Prof. Dr. Ralf Lankau
Hochschule Offenburg | Fakultät Medien
Badstr. 24 | D-77652 Offenburg
Telefon: 0781 – 205 349
Mail: dpw_ralf.lankau@futur-iii.de

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PDF-Datei Call for Papers: Die pädagogische Wende


Der Hintergrund und Begründung

Über die notwendigen (Rück-)Besinnung auf Erziehung und Unterricht

Im Zuge umgreifender Transformationsprozesse des staatlichen Bildungs- und Erziehungswesens v. a. seit dem sog. „Pisa-Schock“ 2001 lässt sich eine Schwächung des Erziehungsgedankens und Monokultivierung des Unterrichts im Sinne eines Imperativs der Selbstregulierung und Digitalisierung beobachten. Bildungseinrichtungen stehen seitdem unter stetig zunehmendem Einfluss von neoliberalen Steuerungslogiken, was sich z. B. an der Zunahme außerschulischer Interessenvertreter und Partikularinteressen ablesen lässt. Richard Münch analysiert diese Logiken und Strategien der Einflussnahme in seinem Buch „Der bildungsindustrielle Komplex“ (Münch 2018). Er zeigt auf, wie internationale Organisationen und privatwirtschaftliche Stiftungen über Think Tanks, die Organisation von Veranstaltungen, Agenda Setting und Projektmittel Einfluss auf die Bildungspolitik und Forschungsfragen nehmen. Als diskursmächtige Sprechorgane für permanente Bildungsreformen und Stichwortgeber für (private) Bildungsforscher arbeiten sie mit Hochschulen und Unternehmen zusammen, und haben Anteil an der umfassenden Transformation von Bildungsprozessen an Kitas, Schulen und Hochschulen. Sie nehmen, ohne demokratische Legitimation, Einfluss auf politische Entscheidungen und dominieren durch Lobby- und Pressearbeit sowohl die Fach- wie die öffentliche Diskussion. Permanente Reformen, immer neue Methoden und Techniken führen dabei auf Ebene der pädagogischen Praxis zu einer beschleunigten Erosion von Bildungs- und Erziehungsprozessen, während das Belastungserleben der pädagogischen Fachkräfte zunimmt und gemeinsame Zeiten und Räume für eine mündigkeitsorientierte Erziehung sowie eine auf das Begreifen von gesellschaftlichen und lebensweltlichen Strukturen hin angelegte Bildung zu verschwinden drohen. Diese Tendenzen finden auch in der immer noch andauernden widerspruchsvollen Bewegung von Zentralisierung und Dezentralisierung im Rahmen des Umbaus der schulischen Steuerung von der Input- zur Outputperspektive ihren unmittelbaren Ausdruck.

Ein wichtiger Taktgeber dieser Dynamiken – und notwendige Infrastruktur zum Erfassen personalisierter Lern- und Verhaltensdaten für die empirische Bildungsforschung – ist die Digitalisierung. Formal wird argumentiert, der Einsatz von Informationstechnologie (IT) sei innovativ, motivierend und lernförderlich. Exemplarisch sei hierzu aus der Eröffnungsansprache von PISA-Koordinator Andreas Schleicher auf dem Global Education & Skills Forum zitiert: Technologie könne innovativen Unterricht zwar verstärken, aber in der Praxis gelinge das nicht, die häufige Nutzung verschlechtere die Lernleistung sogar. Mit Schleicher: „Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt.“ Als Technizist, der das Scheitern von IT im Unterricht nicht als generelles, sondern nur für ein vorläufiges Konfigurationsproblem hält, begründet er dies mit den Worten: „[…], weil es uns nicht gelungen ist, sie gut zu integrieren (because we have not succeded in integrating well)“ (Schleicher 2016). Dabei verkennt Schleicher, dass der fehlende Nutzen durch Digitaltechnologie weniger technische als vielmehr grundsätzlich menschliche, pädagogische und (lern-)psychologische Ursachen hat. Sinnvoller wäre zu schlussfolgern: Das Prinzip der Digital- als Automatisierungstechnik zur Standardisierung von Lernprozessen und automatisierten Abprüfen ist für den Kontext Lehre, Lernen und Unterricht ungeeignet, sobald es nicht nur um Repetition, sondern um Verstehensprozesse geht. Die Charakterisierung des Scheiterns von IT im Unterricht als Anpassungs- und Konfigurationsproblem entspricht dabei exakt dem Muster, das Jesper Balslev in seiner Dissertation „Evidence of a Potential“ nennt: Ein immerwährendes, nie eingelöstes, vor allem nicht einzulösendes Versprechen (Balslev, 2020).

Erfüllt die Technik die an sie gestellten Erwartungen nicht, ändert man diskursstrategisch die Begrifflichkeit und definiert Digitaltechnik und computergenerierte Projektionen zur neuen Leitkultur. Von der Digitalisierung über „digitale Transformation“ führt der Weg zur Phrase der „Kultur der Digitalität“ (Stalder 2016). Auf diese Weise wird eine Verschränkung von physischer und digitaler Welt entworfen, bei der Menschen nur noch als mehr oder weniger selbstbestimmte Akteure im Kontext digitaler Infrastruktur gesehen werden. Dass Menschen aber weiterhin in einer physischen Welt leben, wenn sie vor Bildschirmen sitzen oder sich eine 3D-Brille aufsetzen, um sogenannte „virtuelle Realitäten“ (VR) zu betrachten, wird übersehen.

Das Forum Bildung Digitalisierung e.V., ein Zusammenschluss privater Stiftungen, die sich für eine systemische digitale Transformation im Bildungsbereich einsetzen, stellt als Antwort auf das jahrzehntelange Scheitern von Digitaltechnik im Unterricht das Lehren und Lernen generell unter das „Vorzeichen der Kultur der Digitalität“ und fordert, Lehr-Lern-Settings generell danach auszurichten. Technik wird nicht mehr auf ihren Nutzwert hin befragt, sondern als Prämisse gesetzt. Man müsse zudem „die Diskussion um den Mehrwert digitaler Medien und Tools für Unterricht und Didaktik“ überwinden und stattdessen eine „offene Haltung gegenüber der schulischen Transformation“ einnehmen (FBD 2021). Deutlich wird: nicht nur das Unterrichten und die eingesetzten Medien seien zu ändern, sondern auch die Haltung, denn: „Die Kultur der Digitalität stellt neue Anforderungen an das professionelle Selbstverständnis aller Akteure im Bildungsbereich“ (ebd.). Haltungen ändern zu wollen, ist bereits als Anspruch ein massiver Eingriff in Persönlichkeitsrechte der Lehrenden und Lernenden. In diesem Zusammenhang weist Armin Bernhard (2021) auf die manipulative Kraft der (auch) hier anvisierten kulturindustriellen Sozialisation hin, die auf eine Ausnutzung der inneren Sozialnatur des Menschen als Absatzmarkt hin ausgerichtet ist und in deren Folge das selbstreflexive Potenzial des Menschen über entpersönlichte Disziplinarangebote unterworfen wird (vgl. ebd., S. 247). Die der Software der Computerindustrie zugrunde gelegte Kommandostruktur, so Bernhard weiter, „[…] ist der Prototyp dieser neuen Form der Vergesellschaftung.“ (ebd.), insofern auf diese Weise eigensinnige Subjektstrukturen eingeebnet und so letztlich der Vorgang des Mündigwerdens, der einer Grundlegung durch Erziehung, nicht aber digitaler Selbstoptimierung bedarf, verhindert wird.

Für den Bildungsbereich sind deshalb andere Diskussionen zu führen: Die Auslagerung der Vermittlungsprozesse von Unterricht auf Digitaltechnik funktioniert nicht, weil auf diese Weise nicht Lernprozesse analysiert und kritisch reflektiert werden, wie es die originäre Aufgabe von Schulen und Lehrkräften ist, sondern eine generelle positive Einstellung zu Digitaltechnik eingefordert wird. Klaus Zierer hat die Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien bereits 2021 im Detail aufgezeigt (Zierer, 2021). Zu korrespondierenden Ergebnissen kommt Karl-Heinz Dammer in seinem Gutachten zur Digitalstrategie der KMK in NRW (Dammer 2022). Nicht die eingesetzte (Medien)Technik ist entscheidend, sondern der von einer qualifizierten Lehrkraft strukturierte und geleitete Unterricht. Nur so können Schülerinnen und Schüler die für Bildungs- und Erziehungsprozesse erforderliche Widerständigkeit erfahren, in mündiger Hinsicht handlungsfähig werden. Digitalisierung und Selbstregulierung sind für diesen Zweck als Vereinnahmungsversuche jedweder Form des Widerstands zurückzuweisen.

Diese Resultate werden ergänzt und aktualisiert durch Studien aus der Zeit der Pandemie. Die Studie von Engzell et al. (2021) weist nach, dass selbst Schülerinnen und Schüler von technisch sehr gut ausgestatteten niederländischen Schulen, die den Einsatz von Digitaltechnik im Präsenzunterricht gewohnt waren, durch Fernunterricht Lerndefizite entwickeln, die der Zeit der Schulschließung entsprechen. Sind es Kinder aus bildungsfernen Familien, womöglich mit Migrationshintergrund, sind die Lernrückstände deutlich größer. (Maldonado et al.) Eine Frankfurter Forschergruppe formuliert griffig (und durchaus mit Blick auf mögliche Schlagzeilen): Distanzunterricht ist so effektiv wie Sommerferien (Hammerzell et. al.,2021). Die Studien von Andresen (Jugend und Corona) oder Ravens-Sieberer (CoPsy I–III) zeigen neben Lerndefiziten vor allem gravierende Folgen für die sowohl körperliche als auch psychische Entwicklung durch die erzwungene soziale Isolation. Gleiches gilt für Studierende, hier sind es Ängste, Depressionen, psychische Störungen, Studienabbrüche (DZHW 2021).

Die logische Reaktion wäre, die derzeitige Fokussierung auf Digitaltechnik aufzugeben und wieder das angeleitete Unterrichtsgeschehen im Klassenverband als den „Normalfall Schule“ zu begreifen. Für die Praxis fordert die Ständige Wissenschaftliche Kommission, ein Gremium, das nur mit empirischen Bildungsforschern besetzt wurde, stattdessen noch frühere und mehr Digitalisierung für alle (SWK 2021 und als notwendig korrigierende Replik das Positionspapier von Braun et.al. 2021). Der wirtschaftsnahe Aktionsrat Bildung schlägt, mit dem Ziel der Sicherung der „Resilienz des Bildungssystems“, die Abschaffung räumlicher und sozialer Strukturen (Schul- und Hochschulgebäude, Präsenzunterricht), den Ausbau „digitalen Lernens“ und die Neugestaltung der Rolle von Lehrerinnen und Lehrern (als „ambulante Lehrer“) im Rahmen einer kontinuierlichen Evaluation vor (vgl. vbw 2022, S. 35 f.). Dem muss in Theorie und Praxis widersprochen werden.

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Literaturverzeichnis

Andresen, Sabine; Heyer, Lea; Lips, Anna; Rusack, Tanja; Schröer, Wolfgang; Thomas, Severine; Wilmes, Johanna (2021) Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pandemie – Erfahrungen, Sorgen, Bedarfe; hrsg. v. d. Bertelsmann-Stiftung

Bernhard, Armin (2021): Die inneren Besatzungsmächte. Fragmente einer Theorie der Knechtschaft. Weinheim, Basel: Beltz.

Balslev, Jesper (2020) Evidence of a potential. The political arguments for digitizing education 1983-­‐2015. Ph.Dissertation, Jesper Balslev, Department of Communication and Arts, Roskilde University, January 2020

Bossard, Carl (o.J.) Texte aus Stans. Aufsätze zu elementaren Fragen der Pädagogik.

Braun et. al. (2021) Braun, Tom, Andreas Büsch, Valentin Dander, Sabine Eder, Annina Förschler, Max Fuchs, Harald Gapski, Martin Geisler, Sigrid Hartong, Theo Hug, Hans-Dieter Kübler, Heinz Moser, Horst Niesyto, Horst Pohlmann, Christoph Richter, Klaus Rummler, und Gerda Sieben. 2021. «Positionspapier Zur Weiterentwicklung Der KMK-Strategie ‹Bildung in Der Digitalen Welt›». MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie Und Praxis Der Medienbildung, Nr. Statements and Frameworks (November):1-7. https://doi.org/10.21240/mpaed/00/2021.11.29.X

Dammer, Karl-Heinz (2022) Gutachten: Die „Digitale Welt im Diskurs2 zur Digitalstrategie der KMK und des Landes NRW aus bildungspolitischer Sicht für den Philologenverband NRW, PDF: https://phv-nrw.de/wp-content/uploads/2022/09/PhV-NRW-Gutachten-Digitale-Welt-im-Diskurs-150dpi.pdf

DZHW (2021) Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung: Studieren in Deutschland zu Zeiten der Corona-Pandemie, Rubrik: Publikationen; https://www.dzhw.eu/forschung/projekt?pr_id=665 (30.8.2022)

Engzell, P., Frey, A., & Verhagen, M. D. (2020, October 29). Learning Inequality During the Covid-19 Pandemic. https://doi.org/10.31235/osf.io/ve4z7

FBD (2021) Forum Bildung Digital, Konferenzankündigung: https://www.forumbd.de/veranstaltungen/konfbd22/ (24.10.2022)

Fehr, Ulrich ; Strobl, Helmut: Entwicklung der körperlichen Leistungsfähigkeit bei Kindern während der coronabedingten Einschränkungen im Frühjahr/Sommer 2020. In: Das Gesundheitswesen. (15 September 2021). ISSN 1439-4421; DOI: https://doi.org/10.1055/a-1657-9863

Gruschka, Andreas (2011) Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht. Ditzingen: Reclam

Maldonado, Joana & De Witte, Kristof. (2020) The effect of school closures on standardised student test outcomes, https://bera-journals.onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/berj.3754

Münch, Richard (2018) Der bildungsindustrielle Komplex.Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat, Weinheim: Beltz

Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Otto, C. et al. (2021) Seelische Gesundheit und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse der COPSY-Studie, 01. März 2021; Download PDF (dt.): Copsy Studie Teil I und Link Springer-Verlag:

Schleicher, Andreas (2016) Making Education Everybody’s Business. Eröffnungsansprache auf dem Global Education & Skills Forum 14. April 2016; Folien https://de.slideshare.net/OECDEDU/making-education-everybodys-business (25.10.22); Video ab Minute 30:45: https://www.youtube.com/watch?v=YArPNnqf4nQ (04.11.2022)

Stalder, Felix (2016) Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016

SWK (2021) Digitalisierung im Bildungssystem: Handlungsempfehlungen von der Kita bis zur Hochschule. Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK), (26.10.2022)

vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.) (2022): Bildung und Resilienz. Gutachten. Münster: Waxmann.

WHO (2022) Global status report on physical activity 2022;

Zierer Klaus (2022) Der sokratische Eid. Eine zeitgemäße Interpretation. Münster/Wien, Waxmann

Zierer Klaus (2021) Zwischen Dichtung und Wahrheit: Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien im Bildungssystem, in: Pädagogische Rundschau, 75. Jahrgang, S. 377-392

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